DAS ATTENTAT VON WIETZOW
Ein aufsehenerregender Mord im Tollensetal

von | 19. Dezember 2023 | Blog, Historie

Das Gutshaus Wietzow, Gartenseite, Ansichtskarte, ca. 1910. (Quelle: Neues Gutsarchiv Schloss Broock)

Vor 130 Jahren erschütterte ein Mordanschlag in unmittelbarer Nachbarschaft zu Broock nicht nur die Provinz Pommern, sondern das ganze Kaiserreich. Per Telegraphenleitung ging die Eilmeldung in alle Richtungen – und die Presse reagierte – weltweit! Die Recherchen ergaben, dass nicht nur im gesamten Deutschen Kaiserreich berichtet wurde, sondern auch, um nur einige Beispiele zu nennen, in Prag, Wien, sogar in der New York Times und in zahlreichen Provinzblättern der USA. Die am weitesten entfernte Pressenotiz zu diesem Ereignis findet sich in Australien. 

In den deutschen Blättern überschlugen sich tagelang die Meldungen. Es herrschte Unklarheit über den genauen Tathergang, Falschmeldungen wurden übernommen, dann wieder korrigiert – phantasievolle Behauptungen aufgestellt, neue Augenzeugenberichte und Stellungnahmen eingereicht usw. Widersprüchlich war auch die Charakterisierung und Darstellung des Täters – ganz zu schweigen von der Auslegung des Motivs. Hemmungslos „phantasievoll“ war ein Bericht in der Wiener Presse. Dem stehen allerdings die Berichterstattungen in Übersee kaum nach. Der Anschlag war eine „Sensationsmeldung“.      

Ein offizieller Untersuchungsbericht der hinzugezogenen amtlichen Behörden liegt leider nicht vor und war bislang auch archivalisch nicht zu ermitteln. Daher bleibt nur die Möglichkeit anhand der unterschiedlichen Zeitungsartikel die Ereignisse nachzuvollziehen und zu schildern. Ich stütze mich hierbei vor allem auf die Berichterstattung des Demminer Tageblatts, das sicher einen Redakteur nach Wietzow geschickt hat um Berichte von Zeugen aufzunehmen, sowie auf eine in der Berliner Kreuzzeitung veröffentlichte Richtigstellung durch einen Familienangehörigen, die gewiss auf amtlichen Untersuchungsergebnissen beruht. Von großem Interesse ist außerdem ein in der Berliner Börsen-Zeitung abgedruckter Leserbrief, der über das Vorleben des Täters Auskunft gibt.    

Demminer Tageblatt, 17.10.1893 – hier noch die falsche Berufsangabe „Gärtner“. (Quelle: https://demminer-heimatgeschichte.de/digitales-museum/demminer-zeitung/dz-1893/band-4/)

Die Protagonisten in diesem Drama

Ende des 19. Jahrhunderts finden wir auf Schloss Wietzow den Gutsherrn Adolf Ludwig Leopold August Graf von Blücher aus dem Hause Fincken (geb. 07.12.1840), der am 08.09.1865 Marie Wilhelmine Pauline von Neetzow (geb. 11.04.1844) geheiratet hatte, die Tochter des Landschaftsraths Ludwig von Neetzow auf Wietzow (1802-1854) und seiner Frau Louise, geb. von Heyden (1806-1871). Marie war die Erbin des Guts und brachte Wietzow quasi mit in die Ehe. Ihre Eltern waren eng mit der Broocker Gutsherrschaft befreundet – war doch Ludwig von Neetzow der Vormund für die beiden früh verwaisten Gentzkow-Kinder, bis zu deren Volljährigkeit, bzw. bis zur Vermählung Emilie von Gentzkows (siehe Blogbeitrag) mit Hans Freiherr von Seckendorff (siehe Blogbeitrag). Das Paar bleibt kinderlos – mehr ist über Gräfin Marie nicht in Erfahrung zu bringen – wenigstens bis zu den dramatischen Ereignissen von 1893. 

Graf Blücher trat in jungen Jahren in das Preußische Kürassier-Regiment Nr. 1 ein und diente anschließend als Lieutenant im Regiment der Garde du Corps in Potsdam, der vornehmsten Einheit der königlich preußischen Kavallerie. Er stieg 1866 im Deutschen Bruderkrieg zum Premier-Lieutenant und 1870 zum Rittmeister und Compagnie-Chef auf. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 erhielt Blücher das Eiserne Kreuz II. Klasse und wurde 1872 zum Ehrenritter des Johanniterordens ernannt. Im gleichen Jahr, nach dem Ableben seiner Schwiegermutter, nahm er als Major seinen Abschied vom Militär und widmete sich dem Gutsbetrieb in Wietzow. Er war ein passionierter Pferdenarr und auch ein bewunderter Sport- und Jagdreiter.

Das Attentat

Am Montag, den 16. Oktober 1893, sollte in Broock die traditionelle Parforce-Jagd stattfinden, zu der auch Graf Blücher erwartet wurde. Es war ein ausgesprochen kühler, wolkenverhangener Herbstmorgen und vor den Fenstern des Schlosses lag der weitläufige Park in schönster Laubfärbung, eingehüllt in feinen Nebel. Blücher hatte bereits sein erstes Frühstück eingenommen und saß gestiefelt und gespornt in seinem Arbeitszimmer. Doch bevor er sich auf den Weg machen konnte, musste er noch eine unangenehme Aufgabe erledigen. Es ging um seinen Jäger, den 30-jährigen Karl Thiel, den er Anfang 1891 als Fasanenjäger eingestellt hatte. Bislang war das Arbeitsverhältnis ein gutes und der Graf sehr zufrieden mit seinem Waidmann. Auch Thiel äußerte sich anderen Dienstboten gegenüber, dass er so einen guten Herrn noch nicht gehabt hätte und wohl auch nicht wieder bekommen würde. Doch bereits tags zuvor hatte Graf Blücher eine ernste Auseinandersetzung mit ihm und nun sollte die Fortsetzung folgen. Der Gutsherr ließ um kurz vor 8.00 Uhr nach dem Jäger schicken und der Gerufene erschien auch prompt. 

Die folgende Unterredung war nur kurz aber allem Anschein nach heftig. Thiel geriet in Wut, stürmte aufgebracht davon und hastete in sein Zimmer, welches sich offenbar in der Mansarde oder im Wirtschaftsanbau des Herrenhauses befand. Wenige Minuten später kehrte er mit seinem Jagdgewehr bewaffnet zurück, drang in das Arbeitszimmer des Grafen und legte unvermittelt auf seinen Dienstherrn an. Völlig überrascht versuchte sich Adolf von Blücher reflexartig mit seinem vorgehaltenen linken Arm zu schützen, der dann auch vom ersten abgegebenen Schuss vollkommen „zerschmettert“ wurde. Der Getroffene schrie auf und strauchelte, aber es gelang ihm sich ins Nebenzimmer zu retten, wo er sich zu schützen suchte und sich von innen gegen die Tür stemmte. Thiel gab jetzt seinen zweiten Schuss ab, der durch die Tür schlug und den Grafen in die Seite traf. Der Jäger begriff, dass er es nun zu Ende bringen musste – allerdings hatte er in der Erregung versäumt weitere Munition mitzunehmen. Kurzerhand stürzte er auf den Flur zum Gewehrschrank des Grafen, fand aber alle Schusswaffen ungeladen. Nun rannte er wieder nach oben in seine Stube um nachzuladen und weitere Patronen zu holen. 

Gutshaus Wietzow, Foyer und Treppenaufgang während der Sanierung, 2004.
(Quelle: Jörg Blobelt, CC BY-SA 4.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0, via Wikimedia Commons)

In dem Moment, als er die Treppe wieder hinunterstürmte, sah er Marie von Blücher im Foyer, die offenbar durch die Schüsse und Hilferufe ihres Gatten alarmiert worden und auf dem Weg zu ihm war. Vom ersten Treppenabsatz aus gab Thiel ohne zu überlegen insgesamt drei Schüsse auf die wehrlose und entsetzte Gräfin ab. Der erste Schuss traf sie an der Schulter, zertrümmerte ihr Schlüsselbein und verfehlte nur um Haaresbreite die Halsschlagader. Der zweite Schuss ging an ihrem Gesicht vorbei und landete in der Wand. Der dritte Schuss auf den Oberkörper traf sie wie ein Hieb, wurde aber offenbar durch die Fischbeinstäbchen ihres Korsetts abgeschwächt. Die schwerverwundete Gräfin sackte ohnmächtig in sich zusammen und blieb bewusstlos liegen, während Thiel schon wieder nachlud. 

Der Rasende sprang hinab, an der totgeglaubten Gutsherrin vorbei und zurück in das Zimmer des Grafen, wo sich ihm der mittlerweile herbeigeeilte 73-jährige Diener Ewald entgegenstellte und versuchte ihm das Gewehr zu entreißen. Mit voller Wucht schlug er dem treuen, alten Diener den Gewehrkolben gegen den Schädel. Ewald ging daraufhin zu Boden und stellte kein Hindernis mehr dar. Nun vollendete Thiel den Mord an dem bereits schwer getroffenen und verblutenden, aber wohl noch bei Bewusstsein befindlichen Grafen mit zwei weiteren Schüssen in den Kopf, die das Opfer bis zur Unkenntlichkeit entstellten. 

Mit starrem Blick trat der Mörder ins Foyer, wo inzwischen die übrigen Dienstboten zusammengelaufen waren. Die Männer versuchten ihn zu überwältigen, aber er drohte sofort mit seinem Gewehr, bis alle zurückwichen. Thiel flüchtete erneut auf sein Zimmer. Und während des Grafen Leiche noch warm in den Armen seines alten Dieners lag, hörte man von oben einen weiteren, einen letzten Schuss – der Jäger Karl Thiel hatte sich mit einem Kopfschuss selbst gerichtet und „entzog so sein Haupt der irdischen Gerechtigkeit, wie dem Scharfrichter Reindel, dem es unbedingt verfallen gewesen wäre“.   

Das Gutshaus Wietzow, Hofseite mit Anbauten, ca. 1910. (Quelle: J. Kröger, ehem. Gutshaus Wietzow)

Danach muss alles sehr schnell gegangen sein. Die Dienerschaft wird nach Kräften versucht haben die blutenden Wunden der noch lebenden Gräfin so gut als möglich zu versorgen und sie behutsam auf ihr Zimmer zu tragen. Sie erlangte ihr Bewusstsein erst nach zehn Stunden wieder. Vermutlich jagte augenblicklich der Kutscher mit einem leichten Wagen vom Hof, um den nächsten Arzt aus Demmin oder Jarmen herbei zu holen. Aus der Presse erfahren wir später, dass ein gewisser „Dr. Potell“ die Behandlung übernahm, von dem wir nichts als den Namen wissen.  

Der Sekretär oder vielleicht auch der Gutsinspektor ritt wahrscheinlich im Galopp zum nächsten Telegraphenamt, um die Polizei, aber auch die Familie zu verständigen. Als die Nachricht wenig später in Berlin über den Draht kam, wurde sofort dem Kaiser und auch dem Prinzen Albrecht, Großmeister des Johanniterordens, ausführlich Meldung gemacht. Sicher wurde auch ein Diener nach Broock geschickt, um der dort versammelten Aristokratie des Kreises die Schreckensnachricht zu überbringen. Man kann davon ausgehen, dass die engsten Freunde umgehend nach Wietzow aufbrachen, um ihre Hilfe anzubieten. Die Parforce-Jagd fand unter diesen Umständen natürlich nicht statt, ganz zu schweigen von dem traditionell folgenden Diner und Ball.  

Die Leichname des Grafen und des Jägers verblieben an Ort und Stelle, bis die Untersuchungsbehörden eintrafen. Anschließend konnten die sterblichen Überreste des Grafen für die Beisetzung vorbereitet werden. Die Leiche des Karl Thiel hingegen transportierte man zur Obduktion in die Universität Greifswald, in der Hoffnung einen Hinweis darauf zu finden, was diese Tat ausgelöst hatte. 

 The Morning News – Savannah, USA, 18.10.1893 – bereits zwei Tage nach dem Mord finden sich die Meldungen bereits in den Zeitungen der USA – allerdings wurde der zuerst veröffentlichte, falsche Tathergang abgedruckt.
(Quelle: https://gahistoricnewspapers.galileo.usg.edu/lccn/sn86063034/1893-10-18/ed-1/seq-1/)

Wer war Karl Thiel, was war sein Motiv?

Auch in dieser Frage stiften die unterschiedlichen Presseberichte einige Verwirrung. Dies fängt schon mit der ersten Meldung an, in der es heißt, er wäre der „herrschaftliche Gärtner“. Auch wir konnten bislang nicht viel mehr über den Mann erfahren, als uns die Zeitungen verraten. Erstaunlicherweise wurde der Freitod des Mörders auch nicht im Sterberegister der Kirchengemeinde Daberkow aufgeführt, wohl aber vermerkt man ihn dort als Mörder des Grafen. So erfahren wir weder ein genaues Alter (einmal ist er ca. 25, dann 30 Jahre alt) noch seine tatsächliche Herkunft oder den Ort wo er schließlich bestattet wurde. 

Das Treptower Wochenblatt bezeichnet ihn als Schlesier, andere Zeitungen behaupten später er sei „von polnischer Abkunft“ und wäre früher „wegen Umtrieben“ aus Russland ausgewiesen worden. Als gesichert darf man annehmen, dass er ledig war, auch wenn Die Presse in Wien behauptet, er wäre verheiratet und hätte mehrere „unversorgte“, also uneheliche Kinder. Die ersten Berichte melden, er hätte „stets ein sonderbares, exaltirtes Wesen zur Schau getragen“, er wäre von „starkem Körperbau“ und ein „hervorragender Schütze“ gewesen. Es werden Gerüchte kolportiert, man hätte ihm aufgrund von „anhaltender Trunkenheit“ das Dienstverhältnis gekündigt. Als Antwort auf all diese Mutmaßungen schrieb ein Leser, der Thiel von früher kannte, der Berliner Börsen-Zeitung einen Brief, der auch veröffentlich wurde – leider anonym. Wir wollen diese interessante Beschreibung in Auszügen wörtlich zitieren: 

„Den Zeitungsberichten nach soll Thiel […] ein gewaltthätiger Mensch von unmoralischem Lebenswandel gewesen sein und wird sein Charakter in einem Lichte geschildert, das ihn sehr wohl zur Ausübung einer so verbrecherischen That für befähigt hielt. Von hohem psychologischen Interesse dürfte es nun sein, das Vorleben des Mannes, der so unsägliches Unheil anrichtete, kennen zu lernen und sein Auftreten mit kurzen Worten zu schildern, wie dasselbe vor seiner dienstlichen Stellung in Wietzow sich der Mittwelt präsentirte. In der Zeit von 1888-90 war Thiel in Graditz bei Torgau in der Eigenschaft eines Jägers beim Landstallmeister Grafen Lehndorff. Sein ausnehmend bescheidenes, anspruchsloses und gefälliges Wesen wurde Veranlassung, ihn auch im Hause zu beschäftigen. Sowohl die Frau Gräfin Lehndorff, wie die Comtessen Töchter beauftragten ihn mit Ausklopfen und Reinigen der Teppiche, wie anderen häuslichen Arbeiten, für die er weder engagirt war, noch die in das Ressort eines Jägers fallen, denen er sich willig unterzog. Beinahe Temperenzler [Anm.: Abstinenzler], ein Mann ohne jede Leidenschaft, zuvorkommend gegen Jedermann, war er gewissermaßen ein Liebling der Englischen Trainers und Jockeys geworden, die im Königlichen Hauptgestüt Graditz stationirt, täglich mit Thiel in Berührung kamen und ihn auch des öfteren zur Jagd begleiteten. Dieser Protection nun hatte er es zu danken, daß ihm eine pencuniär einträglichere Thätigkeit übertragen und er aus Graditz von einem Berliner Herrn – Fabrikbesitzer Julius Mehlich – übernommen wurde […]. Das Bleiben Thiels in der neuen Stellung, die er 1890 im Frühjahr etwa antrat, war indessen nur von kurzer Dauer, weil er – gewiß psychologisch interessant – seinem jetzigen Herrn zu energielos, zu wenig, wie man zu sagen pflegt – schneidig – erschien. Schon seine äußere Erscheinung war wenig Respect, geschweige denn Furcht einflößend, lang aufgeschossen, mit schlichtem hellblonden Haar, zeigte das blasse bartlose Gesicht auch nicht den leisesten Zug von Männlichkeit. Der selige Mehlich, den wir im letzten Lenz […] zur ewigen Ruhe betteten, kennzeichnete seinen Jäger mit dem Ausdruck – Waschlappen erster Güte – und trachtete sehr bald darnach, sich einen passenderen Ersatz zu schaffen. Als langjähriger Jagdfreund des verstorbenen Mehlich kam [der] Schreiber dieses [Briefes] im Herbst 1890 in fortwährende Berührung mit Thiel und fand die Kritik seines Brotherrn, streng genommen, zu herb. Mir hat der spätere Mörder und Selbstmörder einen nur soliden Eindruck gemacht, dessen ruhiges, stets nüchternes Wesen auf Jedermann sympathisch wirkte. […] Mehlich entließ ihn, weil er ihm zu ‚harmlos‘ war und kurze Zeit darauf finden wir Thiel zu Anfang 1891 als Fasanenjäger beim Grafen Blücher in Wietzow wieder. Die Legende, welche den Mörder mit dem Nimbus eines Rinaldini [Anm.: Romanfigur/Räuberhauptmann] umgiebt, erzählt, Thiel sei ein so unfehlbarer Schütze gewesen, daß er jeden Sperling per Kugel aus der Luft herabgeholt habe. In Wulckow pflegte der Schrotschuß aus seiner Flinte selten das Wild, dagegen meist nur Löcher in die Natur zu schießen. Große Passion für seinen schönen Beruf zeigte er nie. Und dieser so zugeschnittene, eher furchtsame Mensch gab sich soeben als Mordbube der entsetzlichsten Art der schaudernden Welt zu erkennen! Sollte hier nicht in Folge verschmähter Liebe, oder sonst welcher tief ins Herz und Gemüth einschneidender Seelenschmerzen eine plötzliche Umnachtung des Geistes eingetreten sein, die den Unglücklichen in ganz oder halb unzurechnungsfähigem Zustande zu Mord oder Selbstmord trieb?“

Berliner Börsen-Zeitung, 22. Oktober 1893

Der letzte Satz des Leserbriefs passt zu der oft, bis ins entfernteste Ausland abgedruckten Behauptung, Karl Thiel hätte ein Verhältnis mit einem Dienstmädchen im Schloss unterhalten und diese Affäre wäre „nicht folgenlos“ geblieben. Das heißt, das Mädchen war schwanger. Dieser Umstand sei herausgekommen, dem Mädchen wäre gekündigt worden und man hätte es vom Hof verwiesen. Thiel habe sich beim Grafen für das Mädchen verwendet und versucht das Bleiben der Geliebten zu erwirken. Daraufhin hätte der Graf auch Thiel gekündigt und dies müsse man als Auslöser für das Attentat sehen. 

„erschossen durch seinen Jäger Karl Thiel in seinem Schloß“ – Ausschnitt aus dem Eintrag im Sterberegister, 16.10.1893. (Quelle: Kirchengemeinde Hohenmocker-Daberkow)

Ich persönlich bin von dieser Theorie, als mögliches Motiv für die Tat, bislang nicht überzeugt. Natürlich konnte in jener Zeit ein unverehelichtes, aber schwangeres Dienstmädchen nicht einfach weiterarbeiten, schon gar nicht in einem herrschaftlichen Haushalt. Und jeder ehrbare Gutsherr hätte auch den Kindsvater aus seinen Diensten entlassen – so z.B. auch geschehen in Broock, etwa 30 Jahre früher, als ein neuer Gärtner schon nach einem Jahr wieder den Dienst quittieren musste, weil er die Tochter eines Gutsarbeiters verführt hatte – ebenfalls „nicht folgenlos“. Selbst wenn man berücksichtigt, dass unter diesen Umständen in der Regel eine Kündigung ohne Zeugnis erfolgte, was eine neue, gleichwertige Anstellung erschwerte, da eine Lücke im „Gesindebuch“ gleichbedeutend war mit einer groben Verfehlung, scheint ein Mord als Reaktion unverhältnismäßig. Man darf auch nicht außer Acht lassen wie häufig damals uneheliche Kinder zur Welt kamen. Üblicherweise wurden schwangere Mädchen nach Möglichkeit schleunigst verheiratet, wenn nicht mit dem Kindsvater, dann mit irgendeinem übriggebliebenen Junggesellen – andernfalls war der soziale Abstieg einer ledigen Mutter unaufhaltsam. 

Ohne polizeilichen Untersuchungsbericht, der konkrete Zeugenaussagen enthalten müsste, lässt sich also kaum etwas mit Gewissheit behaupten. Der Bruder des Ermordeten hat in seiner Stellungnahme in der Kreuzzeitung lediglich von „Vorstellungen“ berichtet, die Graf Blücher seinem Jäger gemacht habe – und auch das Treptower Wochenblatt schrieb vorher nur, dass Thiel sich „eines Vergehens schuldig gemacht, weshalb ihm am Sonntag Nachmittag von seinem Herrn Vorhaltungen gemacht wurden. Dies geschah auch am Montag Morgen, kurz vor Aufbruch zu einer in der Umgegend stattfindenden Parforcejagd“. Welches Vergehen verursacht Vorhaltungen, die schließlich einen Mord und anschließend einen Selbstmord provozieren?

Bei all der Fülle an Presseartikeln zu diesem Thema überrascht es durchaus, dass nie ein polizeilicher Untersuchungsbericht oder das Ergebnis der Obduktion des Karl Thiel veröffentlich wurde. Gab es überhaupt ein erhellendes, aussagekräftiges Ergebnis? Was konnte man 1893 von der Pathologie erwarten, wenn es z.B. tatsächlich um einen „Anfall von Wahnsinn“ ging, wie oft angenommen wurde?  

Todesanzeige Adolph Graf von Blücher-Wietzow, Demminer Tageblatt, 18.10.1893. (Quelle: https://demminer-heimatgeschichte.de/digitales-museum/demminer-zeitung/dz-1893/band-4/)

Die totenstille Trauerfeier

Am Donnerstag, den 19. Oktober, begann um 13.00 Uhr die Trauerfeier im Saal des Gutshauses. Im ersten Stock lag die schwerverletzte Gräfin in ihrem Bett und ahnte von nichts. Aufgrund ihres bedenklichen Zustandes wurde Marie von Blücher in dem Glauben gelassen, Ihr Gemahl sei zwar schwer verletzt, aber noch am Leben. Man hatte sie zur Schmerzlinderung und Beruhigung vermutlich mit Morphium behandelt, das sie in einen Dämmerzustand versetzt haben dürfte. 

Um jegliches Geräusch zu vermeiden, das die Gräfin beunruhigen könnte, war das Pflaster des ganzen Gutshofs dick mit Sand bedeckt, wodurch das Rasseln der Fuhrwerke und Kutschen gemindert werden sollte. Die zahlreich erschienene Trauergesellschaft betrat das Haus in größter Stille – die ganze Situation muss gespenstisch gewesen sein. Im Saal, den man mit Tannengrün geschmückt hatte, war auf einem „prächtigen Katafalk“ der zinnerne Sarg des Grafen aufgebahrt, umgeben „von einer unermeßlichen Fülle von Kränzen, Palmen und Blumengewinden“. 

Neben Mitgliedern der gräflichen Familie war der Adel der Region vollständig erschienen – die Familien von Seckendorff, von Heyden, von Maltzahn, von Sobeck, um nur einige zu nennen, sowie das komplette Offizierskorps des Demminer Ulanen-Regiments und eine Deputation des Militärvereins. Nachdem der Daberkower Pastor Friede die Leichenpredigt gehalten hatte, wurde der Sarg von Wietzower Gutsarbeitern in den Park zur Begräbniskapelle getragen, in der sich die Gruft von Ludwig und Louise von Neetzow befindet. Vor dem Sarg gingen die Deputierten des Militärvereins, angeführt von einem Offizier der das Ordenskissen des Regiments trug, auf dem das Ehrenritterkreuz des Johanniterordens, das Eiserne Kreuz II. Klasse und die Rangabzeichen des Grafen befestigt waren. Hinter dem Sarg folgten die übrigen Trauernden. Ob der Sarg während der Trauerfeier nur in die Kapelle gesetzt und erst später vor dem Gebäude in die Erde gebettet wurde, wo sich noch heute das halb zerstörte Grabdenkmal befindet, lässt sich nicht mehr ermitteln. Jedenfalls erscheint ein Zinnsarg für eine Erdbestattung ungewöhnlich. Am Ende der Zeremonie löste sich die Trauergemeinde genauso still und wortlos wieder auf, wie sie erschienen war. 

Die Gruftkapelle von Ludwig und Louise von Neetzow – davor die nach 1945 demolierte Grabstätte des gräflichen Ehepaares, Dezember 2023. (Quelle: Neues Gutsarchiv Schloss Broock)

Wie ging es weiter?

In den folgenden Tagen nahmen verschiedene Zeitungen im Reich, zuerst wohl das Breslauer Tageblatt, dann auch andere, wie die Stralsundische Zeitung, die Falschmeldung unbekannter Herkunft auf, dass die Gräfin ihren Verletzungen erlegen wäre. Das Berliner Tageblatt reagierte bereits am 21. Oktober mit der Richtigstellung, „daß man die Patientin am Leben zu erhalten hofft“ – und sie überlebte und genas. Wir wissen nicht wann man der Gräfin die Wahrheit über das Ableben ihres Ehemanns gestand, aber wir erfahren zwei Monate später durch die Presse: „Ihr gegenwärtiger Zustand soll eine Entfernung aus den Räumen, in denen sie von einem so schweren Unglück betroffen wurde, nothwendig gemacht haben“. Die schwer traumatisierte Marie von Blücher war wenige Tage vor dieser Meldung auf Anraten ihrer Ärzte nach Italien abgereist, um ihre physische und psychische Genesung voranzutreiben. 

Am 01.07.1899 erbt schließlich der Neffe Leberecht Graf von Blücher (1877-1952) gerade einmal 22-jährig das Gut Wietzow, vermutlich nachdem er von seiner Tante adoptiert wurde. Erbberechtigt wären eigentlich noch ein älterer und zwei jüngere Brüder von Adolf von Blücher gewesen, darunter der Vater von Leberecht. Der älteste Bruder war zu dieser Zeit in den USA „verschollen“, bzw. nicht auffindbar – vielleicht hatten die anderen Brüder auf das enorme Erbe freiwillig verzichtet? Auch darüber kann man nur spekulieren. 

Die Silberhochzeit von Adolf und Martha von Seckendorff auf Broock, im Jahre 1900, beschert uns eine Familienaufnahme, auf der auch der 23-jährige Leberecht und die 56-jährige Marie Gräfin von Blücher zu sehen sind. Dies sind leider die einzigen Abbildungen, von Mitgliedern der gräflichen Familie Blücher, die ich ausfindig machen konnte. 

Leberecht Graf von Blücher-Wietzow, mit Monokel und Marie Gräfin von Blücher-Wietzow,19.09.1900. (Quelle: Neues Gutsarchiv Schloss Broock)

Gräfin Marie von Blücher wurde am 25.02.1911 – erstaunlicherweise in Stettin – „von ihren schweren Leiden durch einen sanften Tod erlöst“, wie es in der Traueranzeige heißt.  Ihre letzte Ruhestätte fand sie an der Seite ihres Gemahls im Wietzower Park, vor der Gruftkapelle ihrer Eltern. Noch im selben Jahr verkauft Leberecht Graf von Blücher das Gut und geht erstmal auf Reisen. Später wandert er nach Argentinien aus, wo er eine ausgedehnte Schafzucht auf 225.000 ha betreibt. Es ist nicht bekannt, was aus den Wietzower Archivalien der Familien von Neetzow und Blücher wurde. Vor Ort sind sie nach dem erfolgten Verkauf sicher nicht verblieben – und wären sie es, hätte man sie 1945 vermutlich geplündert und vernichtet. 

Todesanzeige Marie Gräfin von Blücher, Demminer Tageblatt, 28.02.1911. (Quelle: https://www.digitale-bibliothek-mv.de/viewer/image/PPN800148940_1911/217/)

Schlussgedanken

Im beschaulichen Tollensetal ereignet sich vor 130 Jahren ein Drama das die Weltpresse beschäftigt – aber vor Ort weiß heute kein Mensch von dieser Tragödie. Niemand lebt mehr, der die Geschichte vielleicht noch von seinen Großeltern zu hören bekam. Auch ich wurde nur durch Zufall auf dieses Attentat aufmerksam. Ich danke Herrn Bernd Jordan aus Lassan, der mich regelmäßig mit Fundstücken aus der historischen Presse versorgt. So landete eines Tages eine erste Kurzmeldung aus dem Reichsanzeiger über den Wietzower Grafenmord in meinem Maileingang. Ich war überrascht, neugierig, aber mir fehlte die Zeit mich näher damit auseinanderzusetzen. Losgelassen hat es mich jedoch nicht – und so habe ich mich vor kurzem endlich doch noch in den Fall vertieft. Unterstützt wurde ich bei meinen Recherchen dankenswerter Weise auch auf von David Krüger, Demmin und von Christian Bauer, Pastor der Kirchengemeinde Hohenmocker-Daberkow. 

Im Augenblick wird noch in mehreren Archiven nach dem polizeilichen Untersuchungsbericht und dem oben erwähnten Sektionsbericht gefahndet, aber es besteht nicht sehr viel Hoffnung auf Erfolg. Zu viele Unterlagen gingen von 1945 bis heute verloren oder schlummern in unerschlossenen Beständen. Aber ich tröste mich damit, dass manche Geschichten erst dann im Bewusstsein bleiben und auch heute noch die Menschen beschäftigen, wenn am Ende eben nicht alle Fragen beantwortet und alle Rätsel gelöst werden. Ein großes Fragezeichen hinter allem lässt Spielraum für eigene Gedanken und Interpretationen und animiert vielleicht auch später noch zu neuen Nachforschungen. 

Der von seinem Sockel gestoßene, demolierte gräfliche Grabstein – das ursprünglich bekrönende Granitkreuz ist verschwunden, Dezember 2023. (Quelle: Neues Gutsarchiv Schloss Broock)

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